Erlebnisbericht von Pfarrer Werner Friese (Pfarramt 1939-1949)

Pfarrdienst in schwerer Zeit
Erinnerungen zur Zeitgeschichte von Pfarrer Werner Friese, Pfarrer in Hörde von 1939 bis 1949, aufgeschrieben im Jahre 2001

HÖRDE hat für mich mehr Bedeutung als nur als Geburtsort und etliche Jahre Pfarrstelleninhaber. Meine Mutter (1884-1968) ist in Hörde geboren – in der Dienstwohnung meines Großvaters Franz Richard Leube (Ing. Abteilungschef für Außenanlagen des „Hörder Vereins“ auf dem alten Markt an der Langestraße (Treppchen). Mein Vater kam 1904 als Auslandskorrespondent von Thyssen in Hambom in die „Burg“ nach Hörde. Meine Eltern wurden 1908 in Gegenwart von nur 4 Zeugen von Bruder BarteIs getraut im großen Zimmer des Pfarrhauses Kanzlerstr. 8. In dem Haus habe ich ja auch von 1939 bis März 1949 gewohnt. Dass die Trauung so im Pfarrhaus stattfand, ist dadurch begründet, dass meine Großmutter Leube (geb. Reiser aus der Wellinghofer Heide) sterbend in der Klinik lag, mal wach, mal im Koma. Die zukünftige Wohnung meiner Eltern war schon gemietet und teilweise eingerichtet.

Meine Eltern zogen zusammen in das Haus Am Stift 2. Dort wurde ich 1909 geboren, meine Schwester 1911. Ende 1911 zogen wir in die Dessauerstr. 2 (Eckhaus) und wohnten dort auf der Kluse bis März 1916. lch bin in Hörde noch ins 1.Schuljahr zu Fräulein KritzIer in die Viktoria-Schule gegangen. Mein ältester Sohn (geb. 1940) ist auch noch vor unserem Wegzug 1949 für ein Jahr in die Viktoria-Schule gegangen, inzwischen alles schöner Wohnbereich. Im März 1916 hatte mein Vater kein Ausland mehr zu bedienen {Weltkrieg 1914-1918). Er bekam als Prokurist einen bedeutenden Platz in einem mittleren Stahlwerk in Wetter /Ruhr. Die luth. Kirchengemeinde hat ihm als Kirchmeister für vieles gedankt.

Vater ist 1961 mit 81 Jahren heimgegangen, meine Mutter wurde 84 Jahre, bevor wir sie 1968 zu Grabe getragen haben. Aber nun zum Thema Pfarrstellenbesetzung Hörde 1939. Bruder Knoch, den ich bei seinem später begonnenen Studium kennen gelernt hatte, ging mich deshalb an, bat Anfang 39 um Besuch und Gottesdienst. Wie es dann zwischen Presbyterium und Konsistorium gelaufen ist, weiß ich nicht. Bruder Knoch bat um Geduld, es ging darum, den von Münster gewoIlten Mann nicht zu nehmen. dafür mich. Eine ähnliche Situation war in Marien-Dortmund, wo Bruder Iwand (später Prof.) stellvertretend für Bruder Soldat Sup. Heuner die Pfarrstelle übernehmen sollte. Voraussetzung war arische Abstammung und der Eid auf den Führer, den wir beide aber schon abgelehnt hatten. Und dann kam überraschend die Aufforderung für uns beide, an einem Tag (13.6.39, wie ich meine) ins Konsistorium nach Münster zu kommen. Ein älterer Konsistorialrat empfing uns und führte uns dann in ein winziges Aktenzimmer.Er forderte uns auf, den Empfang der Urkunden schriftlich zu bestätigen. Sonst nichts! Im Café Middendorf saßen Frau Iwand und meine Braut. Das war ein herzliches Lachen und Freuen von uns vier. Endlich nach so langer Zeit! Aber eine bittere Pille mussten die Presbyterien und wir Neuernannten doch noch schlucken: der stellvertretende Superint., Bruder Hochdahl, Kirchhörde, ein Freund der Nazis, wollte nicht auf sein Recht verzichten, jedenfalls mich einzuführen. In dem Gespräch zu Dritt mit ihm und Bruder Knoch hat er einiges von Bruder Knoch gesagt bekommen, was dann im Einführunsgottesdienst am 23. Juli zu einer relativ guten Ansprache führte. Bei der Nachfeier am Nachmittag war er nicht dabei.

Das war eine schwere Woche für mich: Sonntag, 16. Juli Verabschiedung von meiner be- kennenden Gemeinde Bremen Stephani, wo ich mehr als 19 Monate gewirkt hatte. Am Montag, dem 17. Juli Standesamt und Trauung in dem überfüllten Kirchsaal. Dann „Hochzeitsreise“ nach Bad Essen mit Fertigung meiner Predigt für die bevorstehende Einführung am nächsten Sonntag in der Lutherkirche, in der Bruder Bartels mich 1909 getauft hatte. Die Hörder Gemeinde hatte ja eine schwere Zeit hinter sich: Entlassung des bisherigen Bezirkspastors aus dem Pfarrerstand. Er verschwand irgendwo nach Wuppertal.

Seine Frau wohnte weiterhin im Pfarrhaus. Ob die Ehe geschieden war, weiß ich nicht. Aber der Frau musste vermutlich unüberlegt gesagt worden sein, dass der neue Pastor am 24. Juli einziehe, woraus sie sich ein Wohnrecht bis zum 23.7. nahm. Sie bereitete dem Presbyterium erhebliche Schwierigkeiten, auch mir. Nur mit Druck von außen konnte ich vor meinem Einzug die Fenster für Gardinenmaße ausmessen. Frau Schönfeld zog am 23.Juli aus und übergab die Hausschlüssel dem Leiter des Gemeindeamtes, Herrn Heiling. Mein Möbelauto aus Bremen stand verabredungsgemäß 6 Uhr am Morgen des 24. Juli in der Kanzlerstraße. Zugleich kam der Anstreichermeister, um das total verwohnte Haus von Grund auf in Ordnung zu bringen. Vier Tage später wurde er zur Wehrmacht eingezogen, sorgte aber für guten Ersatz.

Zum Nachmittag des Einführungstages hatte das Presbyterium tüchtig in den großen Saal des Gemeindehauses eingeladen – auch zur Überwindung aller Widrigkeiten seit Januar 1939.- Es sollen etwa 800 Personen dabei gewesen sein, das betraf mich, „ein Hörder Kind“. Als letzter Gast kam mit Verspätung am Krückstock Bruder Hermann Bartels und begrüßte laut im Saal meine Mutter: „Oh, Ella Du….“

Nun weiter zum Thema Hörde: Ein Stück ehemaliger Sitte oder Gemeindeordnung. Wenn ich -sagen wir mal – auf dem Winterberg, der entferntesten Straße meines Pfarrbezirks, eine Beerdigung vorzunehmen hatte, dann geschah folgendes: Ich marschierte per pedes in schwarz, in der Hand die dicke Tasche mit dem Talar, Barett und Agende, den Remberg hoch. Der oder die Tote lag im Sarg irgendwo im Haus. Verwandte und Nachbarn waren darum versammelt, man hielt eine möglichst helfende Predigt, umgeben von Sterbeliedern, die die meisten auswendig konnten. Das dauerte mehr als eine halbe Stunde. In der Zwischenzeit war der Leichenwagen von Herrn Böcking, mit zwei Pferden bespannt, gekommen. Der Sarg wurde von den Nachbarn heraus gebracht, bei engen Türen durchs Fenster. Überhaupt geschah alles mit nachbarschaftlicher Hilfe. Meine leere Tasche lag jetzt oben auf dem Sitzbock. Die bekam der Friedhofsgärtner für das spätere Umkleiden. Der Pastor ging im Ornat gleich hinter dem Totenwagen, meist ging ein Nachbar zur Seite mit. Der Leichenzug ging auf fest gelegten Straßen, um die Schlanke Mathilde herum den 0eIpfad hinauf. Wenn der Sarg gesenkt war, folgte ein Lied, das Schriftwort und die Auferstehungsbotschaft. Wichtig waren Vaterunser und Aussegnung. Das war die Ordnung seit vielen Jahren. Die ganze Beerdigung dauerte bei so weiten Wegen mehr als 3 bis 4 Stunden. Im Winter war das schlimm. Bei der oft lauten Nachfeier bin ich meist nicht gewesen. Nun muss ich einfügen, dass ich eigentlich kaum so eine langdauernde Beisetzung gehalten habe. Bei allen drei Krankenhäusern gab es jeweils auch eine Leichenhalle, wo dann die kurze Abschiedsandacht gehalten wurde. Aber die Tradition wurde so lange eingehalten, bis die erste Bombe gefallen war. Von da ab hörte mit Beschluss des Presbyterium der Leichenzug durch die Straßen auf. Man traf sich am Grab. Ich habe noch eine Erinnerung an meine erste Beerdigung im überlieferten Stil. Selbst der Name des an TB verstorbenen etwa 20 Jahre alten Mädchens ist noch in einer Gedächtnislücke: Grete…

Ich bin der einzige Pfarrer von Hörde, der den ganzen Krieg über dort war. Medizinische Gründe waren der Anlass dazu. Bis Anfang 1939 war Bruder Knoch noch da, dann wurde er eingezogen. Er blieb nach Kriegsende noch in Gefangenschaft, kam dann überraschend im Oktober 1945 frei, aber als ein total kranker und pflegebedürftiger Mensch. Er hat sich in der Betreuung seiner Frau außerhalb von Hörde auskurieren können, um dann etwa in der zweiten Hälfte 1946 -in der Not- und Hungerzeit -wieder seinen Dienst aufzunehmen, bis er später in die Gemeinde Brakel bei Höxter wechselte und dort Superintendent wurde. Ich habe meinen Dienst in Hörde (und Umgebung) fast allein getan.

Eine enge Freundschaft verband mich mit Pfarrer Hermann Rüter (1900- 1968) von der Gemeinde Höchsten und Syburg. Rundum von uns beiden waren fast ständig 18 Pfarrstellen unversorgt. Sicher war vermutlich die Hälfte der Gemeindeglieder nicht in ihrer Hörder Wohnung, trotzdem waren wir auf die Hilfe von Eremiten, Gemeinschaftspredigern und Halbkranken angewiesen. Denn die Aufgaben, die auf uns beiden Jüngeren zukamen, waren manchmal nicht zu schaffen. Wie gut, dass wir Fahrräder hatten. Das Wirtschaftsamt hatte die Weisung, uns wegen der Bombenopfer rundum für unsere Räder Ersatzteilscheine zu geben. Aber wo gab es Ware und in welcher Qualität? Etwa ab Mitte 1944 konnten die Straßenbahnen nur noch kurze Strecken fahren. Und die Eisenbahn war auch kein sicheres Verkehrsmittel mehr. Nur das Fahrrad konnte uns zu Friedhöfen oder Gottesdiensten bringen. Dadurch war es auch möglich, dass ich zum Höchsten hinauf fuhr, wo es menschlichen Kontakt (auch zum kath. Kollegen) gab. So konnte ich auch mal eine Nacht durchschlafen, ohne bei Alarm aufzustehen. Unsere Erfahrung hatte uns erkennen lassen, dass die Bomber ihre tödlichen Lasten nicht irgendwo, etwa auf Ländereien, abwarfen, sondern immer da, wo Wohnbereiche oder Produktionsstätten waren. Aber wie sollte ich es mit zu Hause halten, wo doch immer wieder Dienste von mir erwartetet wurden? Es gab in Hörde noch eine Gruppe von kräftigen Männern, die im Werk Rohlinge für Panzerfahrzeuge fabrizierten. Mit denen vereinbarte ich mich zur Mithilfe beim Ausschachten für einen unterirdischen Rettungsstollen an dem Platz, wo die Synagoge gestanden hatte. Als ich dann mit meiner kleinen Schaufel kam, nahmen mich zwei und schoben mich in Richtung meiner Wohnung und erklärten unter Zustimmung der andern, ich brauche da nicht zu helfen, ich habe wichtigeres zu tun, mich um Menschen kümmern, die im Leid stecken. Das habe ich verstanden. Die OT (Organisation Todt) hat dann noch geholfen, nur bis zu einem 2. Ausgang kam es nicht mehr. Wir hatten dann auch Strom und ganz innen einen Ventilator. Aber der Stollen war geplant für etwa 60 bis 80 Menschen, bei Vollalarm waren es sicher 150. Man achtete mich und wenn ich stand, dann meldete sich auch irgendwer, ich solle mich auf seinen Schoß setzen. Ich blieb bei Alarm bis zuletzt im Haus, wenn dann das heulende Auf und Ab des Vollalarms einsetzte, dann konnte man nur rasen. Eine freundliche Nachbarin hielt dann die Stahltür einen Spalt breit auf.

Dann kam die Zeit der Jabos, wo man auch auf der Straße nicht mehr seines Lebens sicher war. Jagdbomber flogen ganz niedrig und wenn sie etwas Lebendes sahen, ging das Maschinengewehr los. Das war besonders auf dem Friedhof gefährlich. Es war meist nur ein kleines Trüppchen, das sich möglichst vor 6 Uhr morgens einfand. Der Friedhofsgärtner, Herr Balke, horchte den Warnsender ab. Wenn dann was kam, schrie er und alles lief auseinander und suchte einen möglichst großen Grabstein, hinter dem man sich versteckte. Und dann schloss der Pastor im lehmigen Talar diese bangen Minuten mit dem Vaterunser.

Für Bruder Rüter und mich war es das Wichtigste, dass Gottesdienste gehalten wurden. Es war erstaunlich, dass Menschen vor einem saßen, die man sonst nicht gesehen hatte. Oft bekam man einen Handschlag und eine Kurzmitteilung, was ihm oder ihr zu tragen auferlegt war. Wir haben keinen Sonntag erlebt, an dem wir nicht 2 Gottesdienste, oft sogar auch am Nachmittag einen dritten gehalten haben, alles mit dem Fahrrad, auch bei Eis und Schnee. Das sah dann so aus für einen Sonntag: Immer Versuche, ob ohne Alarm: Bruder Rüter 9 Uhr Höchsten, 11 Uhr Syburg, 14 oder 16 Uhr Barop. Friese: 9 Uhr Lutherkirche, 11 Uhr Schüren, nachmittags Berghofen. Zwischendurch waren wir – nur sonntags -bei den beiden Bethel – Diakonissen, S. Alwine und S. Emilie und den Helferinnen im Keller von Bethanien. Im Keller lagen bis zu 20 Verwundete, die an Gliedmaßen von unserm Chirurgen operiert worden waren. Auch Krankenhäuser fehlten, unsere Ausweichstelle Sümmern war überfüllt. Wir lebten in Angst und Furcht und doch konnten wir der Hilfe Gottes gewiss sein, das haben wir in Rüters Haus einander gesagt und dann vorm Abschied einen Bocksbeutel getrunken.

Bis zum Herbst 1944 war die Produktion im Westteil des Industriegebietes an Rhein und Ruhr zum Erliegen zerbombt. Der Bereich von Dortmund und Umgebung konnte noch Kriegsmaterial herstellen. Das erste Anzeichen für das Kommende war im Oktober ein Großangriff auf das Zentrum von Dortmund und die nördlichen Produktionsstätten. Der Angriff hinterließ eine Fülle von Toten, Verletzten und zerstörten Wohnstätten. In Hörde mehrten sich auch die Meldungen von Gefallenen. Von etlichen Polizeibeamten erfuhr man das, sonst waren die Pastoren nicht mehr die Überbringer der Todesnachricht, es gab ja keine Männer dazu. Aber wenn man einen Besuch machen wollte, fragte man sich, wo ist da in der Nähe ein Bunker oder Fluchtort.

Meine Familie, Frau und zwei Jungen, 1 und 3 Jahre alt, waren zusammen mit einigem Hausrat im Juni/Juli 1943 auf Aufforderung einer Johanniter-Schwester nach Heiligenstadt im Eichsfeld evakuiert worden. Diese Schwester stand uns nahe, weil sie mich 1927 nach einem, von der Eisenbahn verschuldeten, schweren Unfall im Krankenhaus in Altena gesund gepflegt hatte. Jetzt war sie im Baltenheim im Eichsfeld und machte sich Sorgen um uns im gefährdeten Dortmund. Meine Frau kam in ein Notquartier, eine Abstellkammer in dem Heim. Und dann – so möchte ich sagen – griff wie so oft Gott ein. Der Ortspfarrer von Heiligenstadt, Pfarrer Müller, war zugleich Superintendent des Eichsfeldes. Er hatte ein älteres, aber großes Haus unterhalb seiner Kirche. Die Behörde nötigte ihn, in seinem Hause Evakuierte aufzunehmen. Er erfuhr durch Schwester Martha davon, dass im Heim eine Pfarrfrau mit Kleinkindern in einem Notquartier lebe. So bekam meine Frau ein großes Zimmer in der ersten Etage und im Untergeschoss einen kleineren Raum, der als Küche diente. Aber neben eigenen Möbeln (ausgelagert) und einem Elektrokocher gewann sie eine herzensgute Familie. Herr und Frau Superintendent sorgten in dieser Notzeit mit allem nur Möglichen. Dazu gehörte eine Enkelin von 3 Jahren, gerade die richtige Spielgefährtin für unsere Söhne. Mit dieser Pfarrerin in Zahna bei Wittenberg haben wir noch heute Kontakt. Beim Haus war ein Blumengarten mit Beerenobst und am Ufer der Leine ein Stückchen Land für Salat und Gemüse. Ich habe meiner Frau aus der Ferne noch manchen Wunsch erfüllen können, z.B. Briketts für den Winter. Ich war frei von Sorgen für die Meinen, so dass ich mich für schwer Betroffene in Hörde einsetzen konnte. Von Nov. 1944 ab fuhr kein Zug mehr von Dortmund nach Osten. Die Brücke bei Altenbeken wurde immer wieder bebombt. Ich bin dreimal per Bahn zu meiner Familie gekommen, das hörte aber noch vor Weihnachten auf, man durfte im Monat dreimal, später alle 6 Wochen seine Familie besuchen. Aber wie sollte man wegkommen? Das Telefon war auch gesperrt, weiter als 50 km zu telefonieren war nur mit behördlicher Genehmigung (und Abhören) möglich. Überall war Schluss.

Was blieb? Das Fahrrad! Ich bin vor Beendigung des Krieges (8.Mai. 1945) dreimal per Fahrrad nach Heiligenstadt gefahren (240 km). Zum Ausruhen oder für einen Teller Suppe fand ich freundliche Pfarrhäuser. Meine letzte Radtour verlief ohne Panne um den 20. Februar 1945 herum. Danach haben meine Frau und ich je noch einen Brief Anfang März bekommen, dann haben wir bis nach Kriegsende nichts mehr voneinand
r erfahren. Der Superintendent konnte im Radio gut London hören und erfuhr da von den angegriffenen Zielen, z.B.: der Süden von Dortmund sei mit so und soviel Tonnen Sprengstoff schwer getroffen. Das erfuhr aber meine Frau nur mit Schonung.

Und was geschah in Hörde?
Gegen Ende Oktober 1944 war es: – ein oder zwei schwere Angriffe waren vor wenigen Tagen gewesen, im Pfarrhaus gab es kein Stück Glas mehr in den Fenstern – da saß ich in meinem Zimmer, unten Mitte und sah nach draußen auf die Straße, wo müde Menschen sich ein paar Worte zuriefen. Ein Auto hält vorn vor dem Tor. Drei Männer kommen den langen Steinweg zu meiner Haustür, zwei in schwarzer Uniform einer in Zivil. Wir hatten keinen Strom, also klopfen sie heftig an die Tür.

Im Flur wurde ich angesprochen: Sind Sie Pfarrer Friese usw. Wir kommen mit einer Bitte: Ob ich dann und dann auf dem Hauptfriedhof die Beerdigung an einem Großgrab vornehmen könnte. Es gäbe ja so wenig Pastoren und einige müssten auch beerdigen oder könnten das wegen des Alters nicht. Ich würde im Ornat abgeholt und zurück gebracht, bekäme ein Sprechtrichter und hätte einen Begleiter bei mir. So oder so ähnlich trugen sie das vor. Ich ahnte, was das bedeutete, aber konnte ich etwas anderes sagen als Ja? Aber unter einer Bedingung: Pfarrer Rüter und zwei katholische Pfarrer sollten mitwirken. Das wurde alles angenommen und so standen vier Geistliche wenige Tage später beieinander und besprachen den Ablauf. Etwa 100 Meter von uns entfernt standen Massen von Menschen. Wir sahen nach oben, es war sehr trübe, also hoffentlich ohne Alarm. Jeder nannte seinen Plan, ich zu Anfang mit einem Bibelwort und einem Trostvers. Der Priester mit den Beisetzungsriten, Hermann Rüter mit einem klaren Gebet und Vaterunser. Der andere Priester für die Aussegnung. Und so kam es auch. Einzelheiten weiß ich nicht mehr Mit einem Begleiter, der mich am Arm fest hielt, fing ich an, mit einer Bibelstelle und einem Liedvers. Ich kam aber mit meiner Stimme trotz des Trichters gegen das menschliche Schmerzgeschrei und das Rufen von Namen kaum weiter als einige Meter. Bei den anderen Herren wurde es etwas stiller und zugehört, das Vaterunser sogar mitgesprochen. Ich stand fast am Rand einer Riesengrube, ein Meter unter mir lagen tote Menschen, in einem großen Durcheinander, viele fast nackt oder mit einem Fetzen abgedeckt, darüber leichtes Tannengrün. Beim Kreuz der Aussegnung machten viele mit. Dann folgte wieder das Geschrei und das Rufen von Namen. Zu uns Pastoren kam ein würdiger Herr und bedankte sich mehr als mit einer Floskel, das war ehrlich. Die SS-Männer standen weit ab bei den Autos für uns. Hermann Rüter fuhr mit dem Kath. Pfarrer und mir zurück, wir waren für den Abend verabredet. Ich ging allein in meine Wohnung und hockte an meinem Tisch. Das war zu viel. Ich hätte heulen oder mich übergeben können. Nicht lange danach habe ich erfahren, das Grab sei wieder geöffnet worden, die meisten Toten trugen ein Namensschild, so konnten viele in Einzel- oder Familiengräber umgebettet werden. Die ganze Großanlage ist später geöffnet worden, das Massengrab besteht nicht mehr. Als Pfarrverweser von Johannes kam ich 1946 ja auch zum Hauptfriedhof und habe die Anlage mit Grauen gesucht; aber sie bestand nicht mehr.

Ab Januar 1945 meldeten sich bei mir Eltern von Konfirmanden, die nach Hörde zur Konfirmation kommen sollten. Sie hatten eine Bescheinigung oder besorgten sie vom Ortspfarrer der Evakuierungen, dass die Jugendlichen dort am kirchlichen Unterricht teilgenommen haben. Die Unterlagen für diesen Dienst fand ich bei mir. 27 Kinder haben sich angemeldet. Ich wollte doch ihnen zum Glauben helfen, so bestellte ich die Angemeldeten zum 10. Februar in den Vorraum der Kirche. Am 4. März habe ich in der Morgenfrühe (Alarm) die so genannte „Prüfung “ in der fensterlosen Kirche gehalten. Der Kirchmeister Badouin sagte noch ein Wort und hat sich mit guten Worten bei mir bedankt und mich gelobt, was sonst nicht seine Art war.

Die Konfirmation war für den 25. März vorgesehen. Es ging dann so weiter: Am Sonntag, dem 11. März, hielt Bruder Rüter um 9 Uhr den Gottesdienst in der Lutherkirche. Anschließend fuhr er zur alten Kirche in Wellinghofen, weil der altgewordene Bruder Lammert erschöpft und krank war. Ich hatte am Samstagabend eine kurze Andacht im Keller von Bethanien gehalten, weil ich nach den Gottesdiensten 9 Uhr auf dem Höchsten und 11 Uhr in Syburg noch mit dem Rad zu meinen Eltern nach Wetter fahren wollte. Daraus wurde nichts, denn an diesem Sonntag morgen ließen die Sirenen uns nicht zur Ruhe kommen, wenn auch keine Bomben fielen. Aber an dem Morgen ist kein Gottesdienst ungestört geblieben. Auch am Nachmittag ging das so weiter. Ich hatte mir ja wegen des kurzen Weges bis zum Stollen angewöhnt, erst beim Einsetzen des Vollalarms los zu rennen. Eine Frau hielt die Stahltür einen Spaltbreit auf für die letzten oder zum Hören auf die Entwarnung. An diesem Sonntag sind wir oft gelaufen und erst recht in der Nacht und am nächsten Morgen, Montag, dem 12.3: Totalangriff auf Hörde, die Erde wackelte. Ganz nahe am Stollen rappelte es nur so von Einschlägen, kaum eine Sekunde Pause. Das war am Nachmittag etwa zwischen halb vier und 5 Uhr. Kaum war es ruhiger geworden, riss eine Frau die Tür auf und schrie etwa: Die Kirche ist nicht mehr, davon steht nichts mehr. Ich stand fast an der Tür, also raus und die Stufen hoch. Eine Riesenstaubwolke stand da, wo sonst die Kirchenwand zur Kanzlerstraße war. Davon war nichts zu sehen. Was mochte im Pfarrhaus los sein? Ich torkelte über die Steinhaufen, über uns schlug Schlag um Schlag der Klöppel der Kirchenuhr gegen eine Glocke, bis das Laufwerk zu Ende war. Ich fand das Gartentor und kam bis hinter das Haus. Nach vorn zu war der schöne Wallnussbaum nur noch ein Stumpf, man kam nur schwer zur Haustür, Dachziegel und Blechplatten lagen herum. Jetzt waren auch die Holzläden der Fenster teilweise heraus gerissen. Die Haustür hing schief, der Flur war mitgenommen, mein Zimmer war wenig beschädigt, mein Bett im großen Zimmer war auch benutzbar. In der ersten Etage lebten drei ausgebombte Teilfamilien. Ich rief sie an, denen war körperlich nichts passiert. Sie wollten versuchen, außerhalb unterzukommen. Aber ich muss dringend nach Bethanien, wie mag es da aussehen? Über viele Trümmer und die heile Brücke komme ich direkt bis in den Keller. Den Operierten ist nichts passiert, Dr. Storkebaum war schon da und geht jetzt durchs Haus, wo aber alles unbelegt ist. Der Südflügel ist total zerstört und liegt am Boden. Und dann trifft man Bekannte, die Hiobsbotschaften mitbringen. Im Bunker in der Beukenbergstr. sind alle tot, auch in der Gildenstraße gibt es Schwerverletzte.

Dann komme ich zum Gemeindehaus, das ist voll getroffen, Mauern sind eingestürzt, Papiere fliegen herum. Dann kommt mir Hermann Rüter entgegen, er trägt sein Fahrrad über die Trümmer, er ist froh, dass er mich trifft und trauert mit mir über die zerstörte Kirche, in der er am Tag zuvor den letzten Gottesdienst gehalten hat. Bruder Rüter will mich mit zum Höchsten nehmen, um auszuruhen und mich zu stärken. Aber ich will lieber in meiner Gemeinde bleiben. Ich kann nur meine Eindrücke und meinen Schock, der mir zugesetzt hat, etwas mitteilen. Aber das ist der schlimmste Tag, den Hörde je erlebt hat.

Für mich kommt jetzt die Frage Konfirmation ohne Kirche. Da sind zwei Väter auf Suche gegangen, sie finden als möglichen Raum den Kindergarten Bollwerkstraße, der fast unbeschädigt ist. Die Eltern kommen zu mir und bitten mich, unbedingt am 25. zu konfirmieren, vielleicht frühmorgens und so kurz wie möglich. Die Kinder haben sich darauf eingestellt und Verwandte kommen. Ich stimme zu, es werden keine Sitzflächen geben und die Menschen stehen bis auf die Straße. Die Abendmahlsfeier muss auf später verlegt werden. Ich erinnere mich an einen gut verlaufenen Gottesdienst, bei dem alle 27 Kinder jeweils unter den Augen der Eltern eingesegnet wurden. Namen und Sprüche habe ich bis heute aufbewahrt. Zwei Familien hatten 8 Tage vorher Totalschaden erlitten, sie wurden von anderen ohne Schaden mitgenommen. Das war Gemeinde unter Bombendrohung. Und dann haben wir für den Fortgang der Gottesdienste gesorgt, zunächst im Kindergarten Bollwerkstraße und dann bald danach auch im Kindergarten Ermlinghoferstraße.

In diesen Bericht gehört ja auch das Verhältnis zur katholischen Kirche. Die Stiftskirche wurde schon im Herbst 1944 so getroffen, dass sie nicht mehr benutzbar war. Ich habe dann nach Fühlungnahme mit unseren Presbytern den kath. Pastor angerufen und ihm die Mitbenutzung unserer Kirche angeboten, jeweils nach unserem Gottesdienst und ohne Benutzung von Weihrauch. Der Pastor war dankbar und er kam bald persönlich zu mir. Natürlich keine Gebühren, die Heizung ist kaputt, die Küster sollen sich verabreden. Das hat sich dann Monate später zu unserm Mitbenutzen des kath. Gottesdienstraumes in der Wiggerstraße entwickelt. Vom Pastor bis zu den Putzhilfen bestand ein fast fröhliches Miteinander.

Und wie war es mit dem Kommen der ersten Amerikaner? Die SS hatte 2 Tage vor Ostern die böse Ermordung der Verhafteten vorgenommen, die Leichen, fast unbekleidet, wurden auf Leiterwagen durch die Stadt zum Friedhof gefahren und dann verschwanden die Mörder.

Am 13 April rückten vorsichtig die ersten Panzer der Amerikaner über die Hochofenstraße, also von Barop her, in die Stadt ein, kein Widerstand und kein weißes Tuch im Fester, ich kam da gerade von Bethanien her und blieb auf der Brücke stehen. Zwischen den einzelnen Panzern war viel Abstand. Ich kam unbehelligt in die Semerteichstaße und nach Hause, wir Hörder blieben in unseren Wohnungen. Bei mir erschienen am nächsten Tag zwei Amis und fuhren mich zur Hinteren Schildstraße, wo ein vermutlicher Kommandant saß (Beine auf dem Schreibtisch). Das Gespräch verlief etwa so: Du, Clergyman, nicht Nazi, Du Burgermeister. Ich lehnte das deutlich ab. Er verstand die gefalteten Hände und fragte „wer“. Ich nannte ihm Name und Wohnung von Rechtsanwalt Vaerst. Der war nie Nazi. Er war zufrieden und ich wurde nach Hause gefahren und war froh, denn ich hatte Angst, ich sei falsch beschuldigt worden als Nazi. Dr. Vaerst wurde Bürgermeister. Acht Tage später stürmten die Kommunisten das schwer beschädigte Rathaus und herrschten eine Zeitlang, bis von Dortmund her die Ämter in die Großstadt verlegt wurden.

Die Gemeinde Hörde war ja zunächst bei den „Freunden“ in der Wiggerstraße untergebracht, da habe ich auch noch Dienst getan, bis mich Sup. Kluge mit Einführung am 1. April 1949 nach Buer-Hassel holte. Mein Gefährte und Freund, Bruder Jansen, hat den Wiederaufbau der Lutherkirche vorangetrieben, und wenn ich mich nicht täusche, war ich zur Einweihung am 1. Advent 1954 in Hörde und habe mich da wieder an HÖRDE, meinem Heimatort, gefreut.

Nachdem die Amerikaner den Rhein überschritten hatten und westdeutsche Städte in ihrer Gewalt waren, war es mit den Nazis vorbei. Die NS-Bischöfe verschwanden oder verkrochen sich mit ihrem Gefolge. Die Leitung der Landeskirchen funktionierte nicht mehr. Nicht lange nach dem Einmarsch der Amerikaner in Dortmund (11., 12., 13. April) tat sich eine Gruppe Theologen und Kirchenmänner im fast total erhalten gebliebenen pfarrhaus bei Bruder Koch and der Paulskirche zusammen. Es waren besonders Amtsträger aus der ehem. BK-Kirche; Ivand war dabei und Synodale aus Rheinland und Westfalen.

Konstituiert wurde das mit der Bezeichnung Vorläufiger Bruderrat der Kirche, die Schriftstücke später trugen diesen oder ähnlichen Kopf. Ich saß auch dabei als vorläufige Nebengestalt. Es ging in der Hauptsache um die Frage: Wem von den erreichbaren und evtl. verfügbaren Männern der Kirche soll die Leitung dieser oder jener Landeskirche angetragen werden? Ich weiß die Einzelheiten nicht mehr und habe kein Stück Papier davon.

Plötzlich zeigt Bruder Koch auf mich und bezeichnet mich als Kirchenboten. Er wußte von mir, dass meine Familie im Eichsfeld war, und dass ich die Absicht hätte, sobald die Straße zwischen den Orten wieder für Deutsche passierbar sei, mit dem Rad nach Heiligenstadt zu fahren. Das war Mitte April und ich bin weggekommen am 8. Mai, obwohl ich keinen Schimmer hatte, ob man fahren durfte. Auch am Tag meiner Fahrt nicht.

Ich war ja „Direktor“ von einem Krankenhaus und auch Bote des Bruderrates der Kiche.

Bruder Koch schrieb in Englisch und Deutsch einen deutlichen Begleitbrief und dazu eine Urkunde für den Superintendenten Müller in Heiligenstadt, er sei mit sofortiger Wirkung zum Bischof berufen und sein Sitz sei Magdeburg. Die Bethanien-Schwestern nähten zwei Armbinden, eine mit rotem Kreuz und eine mit Kirchenkreuz. In Melsungen sollte ich bei der Firma Braun fragen, ob sie bald ein Nagelbrett zur Nagelung von Knochenbrüchen liefern könnten. Natürlich alles von Bruder Koch in den Brief genommen. In der Zwischenzeit war Bruder Jansen als verkleideter Soldat abends bei mir erschienen (von der Wehrmacht weggelaufen). Der machte in der Gemeinde schon mit und war zur Vertretung bereit. Wir haben zusammen noch das Rad geölt und bessere Reifen aufgelegt. So fuhr ich dann mit etwas Bammel über Aplerbeck auf Unna zu. Kein Mensch war zu sehen außer mal ein Jeep. Vor Unna halten mich zwei Amis auf, packen zu und verlangen, dass ich das Rad an einen Baum lehnte. Ich zeigte auf meine Armbinden.

„Nichts“ winkten sie, dann meinen vielfach gestempelten Umschlag mit den Papieren. Den brachte einer in das Haus. Nichts passierte? Was wird aus mir? Kriegsgefangener? Es kommt ein höherer Soldat aus dem Haus, spricht englisch so, dass ich etwas verstehe. Er nimmt das Rad, betastet es und stellt es an einen Baum, ich daneben. Was nun? Mindestens 20 Minuten dauert es, bis ein Jeep nach dem Mordstempo neben mir hält, das Rad fliegt auf den hohen Sitz hinten und ich davor, so dass ich ständig das Rad festhalte. Und es geht in hohem Tempo Richtung Unna, Soest bis paderborn. Da fahren die Beiden nach links raus. Ich muss aber doch nach rechts Richtung Kassel. Als ich auf ihre Schulter klopfe, halten sie sofort, helfen mir und heben das Rad runter. Dann ein kurzes Gerede in Englisch: Kirchenmann? Frau? Kinder? Zigarette? Und packen sie in meine Hand Ami-Schokolade, Zigaretten (noch da) und sonst was. Ein freundliches Winken und ich hatte Kräfte gespart und ware ein Stück weiter. Ich bin durchgefahren aus Angst vor den Polen, die die Höfe ausraubten. Gegen Abend war ich ziemlich am Ende mit meinen Kräften, die Straßen waren doch kaputt und voller Löcher. Ein Bootsmann ruderte mich über die Weser. Eine Brücke war gesprengt, so dass ich steile Häge bei Witzenhause runter und wieder rauf mußte. Wie froh war ich, als ich am nächsten Morgen die Meinen umarmen konnte.

Der Superintendent fuhr zwei Tage später mit einem Auto nach Magdeburg und damit begann für die Kirche dort eine Aufbauzeit. Die Rückfahrt (leider ohne Familie) ging besser, inzwischen war Berlin gefallen und Hauptstraßen waren befahrbar. In Hörde warteten viele Trauernde und nach den Männern Fragende. Bis 1955 haben etliche auf die Vermissten/Todes-Nachricht gewartet. Ich bin am 1. April 1949 zu wichtigen Aufgaben (Bau eines Gemeindezentrums) in Buer-Kassel eingeführt worden und darüber fast 92 Jahre alt geworden.